Die Unaufräumbarkeit der Welt

Als Kind hatte mein Bruder das chaotischste Zimmer des ganzen Hauses. Nicht nur war er selbst nicht in der Lage, dem Berg durcheinandergeworfener Spielsachen, Bücher und der Sammlungen diverser Kleinteile Herr zu werden, er war auch strikt dagegen (meistens zumindest), dass meine Mutter mit oder für ihn aufräumte.

Für große Konflikte sorgte das nicht, wenn ich meiner Erinnerung trauen kann: ihre Politik war immer, dass wir in unseren Zimmern selbst entscheiden konnten, wie ordentlich wir unseren Lebensraum gestalten wollten, jedenfalls so lange die Verhältnisse nicht gesundheitsgefährdend wurden. Sie bot grundsätzlich Hilfe beim Aufräumen an, versuchte aber nicht, eigene Ordnungsstandards  durchzusetzen.

Und so regierte bei meinem Bruder scheinbar das Chaos – scheinbar, denn eines Tages kamen wir in sein Zimmer und sahen uns einer geradezu archivarischen Ordnung gegenüber: der Scheiterhaufen war verschwunden, die Micky-Maus Hefte standen in chronologischer Reihenfolge im Regal, und er war ab diesem Zeitpunkt immer in der Lage, beispielsweise die Geschichte vom Guru Hishihashi wiederzufinden, sobald man danach fragte (die mit dem berühmten Zauberspruch „Wulle, wulle, Schinkenspeck!“). Der Grund für das Chaos war also keine besonders chaotische Persönlichkeit gewesen, und auch kein Versagen der Erziehungsmethoden meiner Mutter, sondern im Gegenteil sein besonders hoher Anspruch daran, wie ein aufgeräumten Zimmer sein sollte. Ein solches Maß an Ordnung war für ein kleineres Kind, als er es in diesem Moment geworden war, gar nicht herstellbar gewesen. Meine Mutter, die uns im Grunde durchschaute, hatte so etwas schon vermutet.

Ich dagegen bin Zeit meines Lebens im Grunde dem gleichen Aufräumverhalten treu geblieben; und bis heute räume ich sehr ungern auf. Nicht nur weil es eine dieser ermüdenden Haushaltstätigkeiten ist, die morgen auf jeden Fall wieder zu erledigen ist, egal, wie weit man heute damit gekommen ist – sondern vielmehr weil ich im Grunde existenziell daran zweifle, ob die Dinge einen Platz haben, an den sie tatsächlich gehören. Ich bin immer noch in dem Stadium, in dem ich die Ordnung, die mich zufriedenstellen würde, nicht selbst herstellen kann.

Das führt dazu, dass jedes Aufräumen immer die Gefahr birgt, ein Umräumen zu werden: Gehört die kleine Zange zu den Werkzeugen, oder zu den Bastelsachen? Oder braucht man sie doch eigentlich am häufigsten in der Küche? Es steht immer die fundamentale Ordnung der Welt, oder doch zumindest des Wohnraums auf dem Spiel. Warum gibt es ein Schrankfach, das immer leer steht, während andere überquellen? Müsste man diese nicht mal aussortieren und einiges wegschmeißen? Aber was, wenn sich doch alle Gegenstände noch zu anderen Abenteuern eignen? Wie viele Behältnisse braucht man, und ab wann bilden diese wieder eine eigene Unordnung (eine Unordnung zweiter Ordnung sozusagen)?

Diese Unsicherheit macht aber auch flexibel. So lange ich keinen Nussknacker hatte, wohnte der Hammer in der Küche, während die Zange ihn inzwischen beim Nageleinschlagen vertrat. Unordnung und Ordnung unterscheiden sich in diesem System also gar nicht so grundsätzlich voneinander. Wenn die Schere ohnehin nur provisorisch in die Küche oder an den Schreibtisch gehört, dann kann sie ebenso gut provisorisch in der Stricktasche auf dem Sessel liegen.

So lange ich für einen kleinen oder etwas größeren Bereich allein verantwortlich war, konnte ich mit dem Paradox der Unaufräumbarkeit zu meiner Zufriedenheit umgehen. Es war kein Problem, wenn Papiere monatelang auf einem Stapel auf dem Schreibtisch lagen, weil dieser Stapel sich automatisch chronologisch ordnete, und jedes Dokument damit (wenn auch mit archäologischen Methoden) wieder zugänglich war. Das einzige Problem entstand, wenn ich tatsächlich beim Aufräumen einmal für irgendeinen Gegenstand den absolut richtigen und für immer gültigen Platz fand; denn diesen Gegenstand hatte ich damit höchstwahrscheinlich für die nächsten Jahre gründlich vor mir selbst versteckt.

Ganz anders sieht das Problem der Unaufräumbarkeit aus, wenn es wie aktuell der Fall um mehrere Unabwägbarkeitslevel verschärft wird. Nicht nur gibt es zwei kleine Kinder, deren ureigenstes Element das Chaos zu sein scheint, und außerdem keine Zeit zu gründlichem Aufräumen lassen, auch das beigeordnete Mitelternteil erhöht die Schwierigkeitsstufe, da es eine völlig andere Ordnungsphilosophie vertritt als ich.

Diese besagt ganz schlicht, das dann aufgeräumt ist, wenn gewisse Flächen – wie etwa der Wohnzimmerfußboden – frei sind, auf ihnen also nicht sichtbar Dinge herumliegen. Dieser Zustand ist schnellstmöglich herzustellen.

Die Interaktion der beiden Philosophien ist eine Katastrophe. Bei meiner Art, aufzuräumen entstehen selten vollständig freie Flächen, da immer Objekte übrig bleiben, die noch nicht an ihren Platz zurückkönnen, vorläufig undefinierbar sind, oder nicht mehr Teil der Gegenstandskategorie sind, der ich mich im aktuellen Aufräumvorgang widme. Da der Gesamtaufräumvorgang also nie ganz abgeschlossen ist, wird er durch Aufräumvorgänge der gegensätzlichen Philosophie von Zeit zu Zeit unterbrochen (und diese gehen ja wesentlich schneller). Alle Dinge, die sich noch im unabgeschlossenen Aufräumvorgang befinden, oder gerade an einem Platz wohnen, der der Philosophie der freien Horizontalflächen entgegenstehen, wechseln also mitten in diesem Prozess ihren Platz und landen an einem Ort, der nicht logisch aus ihrer Funktion oder anderer Eigenschaften herzuleiten ist, und der nicht unmittelbar sichtbar ist.

Zwei Wäschekörbe, deren Inhalt noch darauf wartet, zusammengelegt und auf die verschiedenen Schränke verteilt zu werden (eine Tätigkeit, die auch unter dem Unaufräumbarkeitsparadox leidet, und daher gerne aufgeschoben wird) finden sich plötzlich im Kinderzimmer wieder, das damit vollständig mit Dingen vollgestellt sind, die eigentlich nichts mit dem Kind, das dort wohnt, zu tun hat, und das noch zu klein ist, sich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren. Jeder Gegenstand kann plötzlich unauffindbar sein. Jeder Gegenstand kann plötzlich einen Ort blockieren, an den ich gerade etwas zurückräumen will. Jedes Regalbrett füllt sich mit Dingen aller Art, so dass keine Kategorien mehr gebildet werden können. Niemand findet mehr die Dinge, die er braucht, alle finden alles Mögliche andere. Es ist, als ob die Gegenstände selbst den Verstand verloren hätten.

Vielleicht gäbe es einen Weg, wie beide Philosophien sich ergänzen könnten, statt sich gegenseitig zu sabotieren. Wenn dem so ist, werden wir ihn sicher irgendwann finden. Wenn nicht, ist es tröstlich zu wissen, dass ich objektiv, nach aktuellem Stand der Wissenschaft, Recht habe mit meiner These von der Unaufräumbarkeit der Welt. Mein Bruder, der inzwischen Physiker ist, hat es mir versichert, als ich ihm einmal von meinem Paradox erzählt habe: genau das besagen die Gesetze der Thermodynamik.

3 Kommentare

  1. Eine meiner lieblings Schriftsteller (Victor Hugo) sagte: „es gibt Autoren, die denken können und es gibt andere, die zum Denken bringen“
    Mir sind die zweiten lieber!
    Das ist eine schöne Geschichte, die einem zum weiterdenken verleitet! Weiter so!!!

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